Traurigkeit

Dieses Thema im Forum "Kaffeeklatsch" wurde erstellt von Skippylein, 6. November 2006.

  1. Skippylein

    Skippylein Neues Mitglied

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    Es war eine kleine Frau, die den staubigen Feldweg entlang kam. Sie war wohl schon recht alt, doch ihr Gang war leicht und ihr Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens. Bei der zusammengekauerten Gestalt blieb sie stehen und sah hinunter. Sie konnte nicht viel erkennen. Das Wesen, das da im Staub des Weges sass, schien fast körperlos. Es erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen Konturen. Die kleine Frau bückte sich ein wenig und fragte: "Wer bist du?"
    Zwei fast leblose Augen blickten müde auf.
    "Ich? Ich bin die Traurigkeit", flüsterte die Stimme stockend und so leise, dass sie kaum zu hören war.
    "Ach die Traurigkeit!" rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine alte Bekannte begrüssen.
    "Du kennst mich?" fragte die Traurigkeit misstrauisch. "Natürlich kenne ich dich! Immer wieder einmal hast du mich ein Stück des Weges begleitet."
    "Ja aber...", argwöhnte die Traurigkeit, "warum flüchtest du dann nicht vor mir? Hast du denn keine Angst?"
    "Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weisst doch selbst nur zu gut, dass du jeden Flüchtigen einholst. Aber, was ich dich fragen will: Warum siehst du so mutlos aus?" "Ich.....ich bin traurig", antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme. Die kleine, alte Frau setzte sich zu ihr. "Traurig bist du also", sagte sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. "Erzähl mir doch, was dich so bedrückt."
    Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr diesmal wirklich jemand zuhören wollen? Wie oft hatte sie sich das schon gewünscht.
    "Ach, weisst du", begann sie zögernd und äusserst verwundert, "es ist so, dass mich einfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die Pest." Die Traurigkeit schluckte schwer. "Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen. Sie sagen: Papperlapapp, das Leben ist heiter. Und ihr falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen: Gelobt sei, was hart macht. Und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie sagen: Man muss sich nur zusammenreissen. Und sie spüren das Reissen in den Schultern und im Rücken. Sie sagen: Nur Schwächlinge weinen. Und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen."
    "Oh ja", bestätigte die alte Frau, "solche Menschen sind mir schon oft begegnet." Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen. "Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selbst begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid bricht wieder auf wie eine schlecht verheilte Wunde, und das tut sehr weh. Aber nur, wer die Trauer zulässt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht, dass ich ihnen dabei helfe. Statt dessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu." Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und schliesslich ganz verzweifelt. Die kleine, alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlt, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel. "Weine nur, Traurigkeit", flüsterte sie liebevoll, "ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr an Macht gewinnt." Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin: "Aber...aber - wer bist eigentlich du?" "Ich?" sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd - und dann lächelte sie wieder so unbekümmert wie ein kleines Mädchen.....
    "ich bin die Hoffnung."

    (Inge Wuthe)
     
  2. Sigi

    Sigi Mitglied

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    Skippylein,

    dass ist eine der schönsten Geschichten die ich kenne. Danke Dir,dass Du sie mir wieder in Erinnerung gebracht hast.

    Liebe Grüße
    Sigrun
     
  3. Susanne L.

    Susanne L. Mitglied

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    Traurigkeit und Hoffnung

    Hallo Skyppilein,

    was für eine wunderschöne Geschichte! So ist das wohl tatsächlich; Traurigkeit heilt die wunde Seele mit einem Balsam, der Hoffnung. Werde diese Geschichte gleich mal ein paar Bekannten weiter reichen.

    Wer ist eigentlich Inge Wuthe? Gibt's von der noch mehr zu lesen und zu lernen?

    lg
    Susanne
     
  4. Sigi

    Sigi Mitglied

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    bei Bielefeld
    Hallo ,

    http://www.gomah.de/geschichten/gesch1/wuthe_traurigetraurigkeit.htm

    da steht noch mehr. :) Diese Geschichte ist im Moment wohl wieder aktuell,denn in dem Blog,wo ich auch schreibe,stand sie die Tage. Es ist eine wunderschöne Geschichte,die die schon vor Jahren mal gelesen habe.
    Übriegens Susanne,einfach den Namen bei Google eingeben,da kommen über 1000 Einträge dazu ;).Ich mach das immer,auch wenn ich was suche.Manchmal gebe ich einfach Fragen ein :)

    Liebe Grüße und viel Spaß beim Stöbern
    Sigrun
     
  5. Susanne L.

    Susanne L. Mitglied

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    457
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    Sachsen
    Google

    Klar, Sigi -

    hast ja vollkommen Recht mit dem Hinweis auf Google. Manchmal sieht man eben den Wald vor lauter Bäumen nicht!

    lg
    Susanne
     
  6. Sigi

    Sigi Mitglied

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    bei Bielefeld
    Susanne,das war nicht böse gemeint :).
    Ich bin immer nur wieder faziniert,was man im I-Net alles findet. Hab es doch erst knapp 2 Jahre .

    Liebe Grüße
    Sigrun
     
  7. suse19782002

    suse19782002 ich liebe gummibärchen

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    Fürstenwalde/Spree
    Sehr schöne Geschichte! :)
     
  8. rose40

    rose40 Leben und leben lassen

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    2. März 2005
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    212
    Ort:
    norddeutschland
    wunderschön

    Hallöchen ,das war eine wunderschöne Geschichte mir liefen die Tränen.Habe eine dünne Haut dankeschön !!!!:o
     
  9. Muckel1986

    Muckel1986 Mitglied

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    846
    Ort:
    Braunschweig
    Auch ich möchte mich bedanken, für diese schöne Geschichte. Sie hat mich irgendwie sehr bewegt, da sie etwas wahres in sich trägt.
     
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